Azazel
Die mosaische Weisung gibt vor, dass am großen Versöhnungstag die Schuld des ganzen Volkes nicht nur durch Opfertiere gesühnt, sondern auch auf einen Ziegenbock gelegt werden soll: Der Priester legt seine Hände auf den Kopf des Ziegenbocks und bekennt die Sünden des Volkes. Damit legt er alle Sünden, die dabei benannt werden, auf den Bock. Danach wird der Ziegenbock von einem Diener in die Wüste geführt und dort losgelassen: Der Bock trägt symbolisch alle zuvor genannten Verschuldungen weg in die Wüste, wo sie vergessen sein sollen.
Eine jüdische Erzählung im Talmud besagt, dass die Rabbiner dem Bock ein rotes Band an eines seiner Hörner banden, bevor sie ihn der Wüste preis gaben. Eine zweite Hälfte des roten Bandes hinterlegten sie im Tempel. Nun geschah es, dass sich die rote Farbe des hinterlegten Bandes jedes Jahr nach dem Versöhnungstag zuverlässig in Weiß verwandelte. Die für den Kult Verantwortlichen interpretierten die Verwandlung der Farbe Rot in Weiß als Bestätigung dafür, dass Gott die zuvor bekannte Sünde vergeben hatte. Der Vorgang bestätigte die Verheißung aus Jesaja 1,28: „Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden.“
Die Erzählung fährt fort, dass in den letzten 40 Jahren vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. das rote Band des Versöhnungstags seine Farbe nicht mehr änderte:
Talmud, Mas. Rosh haShana 31b:
„Und in einer Baraita wird gelehrt: In den vierzig Jahren vor der Zerstörung des Zweiten Tempels wurde das Band purpurfarbener Wolle nicht weiß, sondern nahm eher einen dunkleren Rotton an.“
Nach christlichem Verständnis wurde die Funktion des Ziegenbocks obsolet, nachdem Jesus im Jahr 30 n.Chr. für die Sünde gestorben und auferstanden war.
Die deutsche Sprache hat aus diesen Überlieferungen das geflügelte Wort des „Sündenbocks“ ebenso übernommen, wie die Redewendung „jemanden in die Wüste schicken“.
Der Sprachgebrauch belegt nicht nur die enge Verknüpfung zwischen jüdischer und christlicher Kultur. Er dokumentiert die Verankerung christlicher Glaubenskonzepte in der jüdischen Tradition. |